Psychische Belastung bei Diabetes – Interview mit Prof. Bernhard Kulzer

Berlin, 23.11.2021

Ein Großteil der Menschen mit Diabetes (80 bis 90 Prozent) wird permanent in hausärztlichen Praxen betreut.1 Die Praxisteams wissen, wie belastend die Diagnose Diabetes sein kann und wie eng verzahnt psychisches und somatisches Wohlbefinden insbesondere bei dieser Erkrankung ist. Das Problem: Ein vermindertes psychosoziales Wohlbefinden stellt sich bei Menschen mit Diabetes etwas anders dar als bei Stoffwechselgesunden. Somit sollte auch die Versorgung, die sie dann erhalten, speziell auf ihre Bedürfnisse zugeschnitten sein. Wir haben mit Prof. Dr. Dipl.-Psych. Bernhard Kulzer, Fachpsychologe DDG, darüber gesprochen, von welchen psychischen Belastungen Menschen mit Diabetes häufig betroffen sind und welche Maßnahmen dann zu ergreifen sind.


Bei Menschen mit Diabetes besteht ein erhöhtes Risiko für psychische Probleme, unter anderem eine mehr als zweifach höhere Wahrscheinlichkeit für Depressionen im Vergleich zu Stoffwechselgesunden.2 Welche Ursachen hat das?


Prof. Dr. Dipl.-Psych. Bernhard Kulzer: Nicht nur Depressionen, sondern auch andere psychische Störungen wie Angst- oder Essstörungen kommen bei Menschen mit Diabetes häufiger vor. Studien zeigen, dass erst mit dem Verlauf der Diabeteserkrankung – vor allem, wenn bereits Folgeerkrankungen auftreten – die psychischen Probleme zunehmen. Zudem sind diese sehr oft mit erhöhten diabetesbezogenen Belastungen assoziiert, die eine wichtige Rolle bei der Entstehung von psychischen Problemen bei Diabetes spielen. Mit anderen Worten: Andauernde Belastungen im Zusammenhang mit dem Diabetes können langfristig psychische Störungen auslösen. Daher sind Strategien, die Personen mit Diabetes unterstützen, besser mit ihrem Diabetes klarzukommen, eine wichtige Maßnahme zur Prävention psychischer Probleme. Unsere Arbeitsgruppe konnte dies kürzlich in einer Studie auch nachweisen. Außerdem werden auch biologische Ursachen für das erhöhte Risiko für psychische Störungen bei Diabetes diskutiert.

 

„Bei fast allen psychischen Störungen gibt es ein größeres Risiko für Menschen mit Diabetes.“


Wodurch können die Belastungen im Zusammenhang mit dem Diabetes – der sogenannte Diabetes Distress – denn entstehen?


Prof. Dr. Dipl.-Psych. Bernhard Kulzer: Das kann die Angst vor Folgeerkrankungen, Angst vor Hypoglykämien oder Überzuckerungen sein. Diabetes Distress kann aber auch aufgrund von Überforderung durch die Therapie oder durch die Aufgabe, den Diabetes in das eigene Leben, den Alltag zu integrieren, entstehen. Auch negative Reaktion von anderen oder Konflikte mit dem betreuenden Diabetesteam können belastend wirken. 24/7/365: Immer gleichermaßen mit dem Diabetes gut zurecht zu kommen, ist nicht einfach – vor allem, wenn andere Probleme im Leben, wie zum Beispiel Beziehungs- oder Arbeitsstress, andere Krankheiten oder schwierige Lebenssituationen viel Energie und Aufmerksamkeit benötigen. Dadurch wird häufig die Umsetzung der Diabetestherapie erschwert – vor allem, wenn die Lebensprobleme mit dem Diabetes interagieren. Daher kann es manchmal ratsam sein, Betroffenen verschiedene Unterstützungsmöglichkeiten wie etwa Beratungsstellen oder Psychotherapie aufzuzeigen, damit mit einem besseren Umgang mit dem jeweiligen Problem diese wieder genügend Energie und Motivation für die Diabetestherapie haben.


Inwiefern wirken sich Depressionen auf die Glukosewerte aus?


Prof. Dr. Dipl.-Psych. Bernhard Kulzer: Eine Depression erschwert aufgrund der damit verbundenen Symptome wie Energielosigkeit, Antriebsminderung, Interessensverlust und Grübelneigung zumeist die Umsetzung der Diabetestherapie. Betroffenen fällt es plötzlich schwer, Entscheidungen zu treffen, die sonst leicht von der Hand gehen. Zudem werden oft Dinge problematisiert oder negativ gesehen, die vorher kein Problem waren. Depressionen sind vor allem bei einer Erkrankung wie Diabetes problematisch, bei der man jeden Tag zahlreiche Therapieentscheidungen treffen muss. Studien bestätigen das leider: Menschen mit Diabetes und einer komorbiden Depression haben in der Regel schlechtere Glukosewerte, ein erhöhtes Risiko für Folgekomplikationen und ein höheres Mortalitätsrisiko.


Welche Möglichkeiten haben Praxisteams in solchen Fällen, Menschen mit Diabetes auf ihrem weiteren Therapieweg zu unterstützen?


Prof. Dr. Dipl.-Psych. Bernhard Kulzer: Eine nachgewiesenermaßen sehr gute Möglichkeit, um Menschen mit Diabetes zu unterstützen und diabetesbezogene Belastungen zu reduzieren, ist eine Diabetesschulung. Eine moderne Diabetesschulung ist nicht nur dazu da, Wissen und Kenntnisse über den Diabetes zu vermitteln, sondern soll den Teilnehmer*innen auch das notwendige Rüstzeug vermitteln, um mit Schwierigkeiten im Alltag gut umzugehen, positiv mit Fehlern und Rückschlagen zurecht zu kommen (Fehlermanagement) und sich immer wieder aufs Neue zu motivieren. Psychische Probleme kann man oft auch bei der Analyse von Glukosewerten oder bei der Ursachensuche für Barrieren der Diabetestherapie erkennen. Ist das der Fall, sollte rasch ein diagnostisches Gespräch erfolgen und dem Betroffenen verschieden Behandlungsoptionen angeboten werden.


„Eine sehr gute Möglichkeit, um diabetesbezogene Belastungen zu reduzieren, ist eine Diabetesschulung.“


Wirkt die Anwendung neuer Technologien wie CGM- oder AID-Systeme auf die Psyche eher be- oder entlastend?


Prof. Dr. Dipl.-Psych. Bernhard Kulzer: Die meisten Anwender*innen erleben die modernen Technologien als Vorteil. Insgesamt – das wissen wir ja auch aus den Ergebnissen des Digitalisierungs- und Technologiereport Diabetes (D.U.T-Report) – sind die meisten Menschen mit Diabetes mit den neuen Diabetestechnologien und digitalen Anwendungen sehr zufrieden und erleben diese als eine willkommene Unterstützung. Zum Beispiel aufgrund von Warnfunktionen vor Unter- oder Überzuckerungen bei der kontinuierlichen Glukosemessung oder durch selbstlernende Algorithmen bei AID-Systemen, die die Diabetestherapie erleichtern und nachgewiesenermaßen auch zu einer besseren glykämischen Kontrolle führen. Aber wie immer im Leben kommen Menschen ganz unterschiedlich mit ein und derselben Sache zurecht: Was für den einen eine tolle Entwicklung und Entlastung im Diabetesmanagement darstellt, ist für andere eine Belastung. Sie möchten nicht von der Technik abhängig sein, der häufige Blick auf die Glukosewerte mit all ihren Schwankungen frustriert sie oder sie nutzen schlichtweg nicht die technischen Möglichkeiten der neuen Technologien. In diesem Fall können neue Technologien auch belastend sein.


Die AG „Diabetes und Psychologie“ der DDG bietet für Psychologen*innen eine Fortbildung zum „Fachpsychologen*in Diabetes“3, die Bundespsychotherapeutenkammer in Zusammenarbeit mit der AG eine „Weiterbildung zur speziellen Psychotherapie bei Diabetes“4 an. Warum braucht es Psychologen*innen, Psychotherapeuten*innen mit speziellen Fachkenntnissen über Diabetes?



„Es reicht nicht, die klassischen Strategien einer Depressionsbehandlung anzuwenden.“
 

Prof. Dr. Dipl.-Psych. Bernhard Kulzer: Die Belastungen im Zusammenhang mit der chronischen Erkrankung Diabetes sind oft ursächlich für die Entwicklung einer psychischen Störung. Deshalb reicht es in einer Therapie nicht, nur die klassischen Strategien einer Depressions- oder Angstbehandlung anzuwenden. Es muss auch gemeinsam mit den Patienten*innen überlegt werden, wie ein besseres Diabetesmanagement gelingen kann. Dazu muss man sich mit dem Krankheitsbild Diabetes, den Therapieanforderungen und dem Zusammenhang zwischen diabetesbezogenem Distress, psychischen Störungen und Diabetes auskennen. Also, was ist zum Beispiel der Unterschied zwischen einer allgemeinen Angst und einer Hypoglykämie-Angst? Was ist spezifisch bei Ängsten vor Folgeerkrankungen? Was sind Diabetes-Stressoren und wie kann man sie identifizieren und verändern? Mit diesen Kenntnissen können Fachpsychologen*innen Menschen mit Diabetes bei ihrer Therapie unterstützen.

Weiterführende Informationen


Mehr Infos zu psychischen Belastungen bei Menschen mit Diabetes hat die Arbeitsgemeinschaft Diabetes + Psychologie auf ihrer Homepage zusammengestellt. Dort finden Sie auch Screening-Fragebögen für die Arbeit mit Ihren Patienten*innen sowie weitere Materialien zum Download.


Quellen:
1. Siegel EG, Siegel EG. Deutscher Gesundheitsbericht Diabetes 2021: S. 214
2. Stiefelhagen P. CME 2019; 16: 20, www.link.springer.com
3. Arbeitsgemeinschaft Diabetes & Psychologie (DDG), www.diabetes-psychologie.de (Stand 09.09.2021)
4. Bundespsychotherapeutenkammer, www.bptk.de (Stand 16.11.2021)

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