Gezielte Prävention – zukünftig via App

Berlin, 18.05.2022

Prädiabetes – heterogener als man vielleicht denken mag. Das wissen wir spätestens seit der im letzten Jahr durch Wissenschaftler*innen des Universitätsklinikums Tübingen (UKT) publizierten Identifizierung von sechs Subtypen des Prädiabetes.1 Der Weg ist also frei für gezielte Prävention. Aber wie lässt sich das Wissen am besten anwenden? Forscher*innen der Endokrinologie/Diabetologie (UKT) evaluieren im Rahmen des Projekts „Prediabetes Clusters“ aktuell den eigens entwickelten Algorithmus. Dieser ist Grundlage der App, die zukünftig Wissenschaftler*innen, Ärzte*innen und weiteren interessierten Personen bei der Risikoabschätzung unterstützen soll. Dr. Katsiaryna Prystupa, Projektmitarbeiterin und Gewinnerin des bytes4diabetes-Award 2022 (Sonderpreis) stellt das Projekt im Interview vor.

Die Studie von Wagner et al.1 hat gezeigt, dass sich bereits in einer sehr frühen Phase des Prädiabetes sechs Subphänotypen klar voneinander abgrenzen lassen. Einige von ihnen sind mit einem hohen Risiko für die Entwicklung eines Typ-2-Diabetes und das frühe Auftreten von Folgeerkrankungen verbunden. Welche Relevanz hat diese Entdeckung für die Diagnostik und Therapie des (Prä-)Diabetes?

Dr. Katsiaryna Prystupa: Der Zucker- und Fettstoffwechsel verändert sich in der Regel im Laufe der Jahre, bis er bei manchen Menschen außer Kontrolle gerät und zu Diabetes führt. Wie schnell, und ob ein Prädiabetes überhaupt zu Diabetes fortschreitet, und wie schnell er zu einer Folgeerkrankung führt, ist von Patient*in zu Patient*in sehr unterschiedlich. Das Clustering-Vorgehen zeigt bestehende signifikante pathophysiologische Heterogenität lange bevor Typ-2-Diabetes diagnostiziert wird. Ein neuartiger Ansatz zur Subphänotypisierung des metabolischen Risikos vor dem Auftreten von Diabetes könnte genaue und wirksame Präventionsstrategien für Menschen mit erhöhtem Risiko für die Entwicklung von Typ-2-Diabetes bieten. Mit sechs klar differenzierten Subtypen bei Menschen, die noch keinen Diabetes entwickelt haben, kann das Erkrankungsrisiko für Betroffene genauer eingeschätzt und durch gezielte Prävention reduziert werden.

Stützen diese Erkenntnisse das bisherige Vorgehen bei der Prävention eines Typ-2-Diabetes oder ist dadurch eher ein Richtungswechsel zu erwarten?

Dr. Katsiaryna Prystupa: Diese Erkenntnisse vertiefen unser Verständnis der Entwicklung und des Fortschreitens der Krankheit, bestätigen die Notwendigkeit präventiver Maßnahmen, helfen aber vor allem dabei, diese zu personalisieren. Durch die Identifizierung von Hochrisiko- und Niedrigrisiko-Patientengruppen individualisieren wir somit den Behandlungs- und Präventionsansatz, z. B in Cluster 6 ist eine Insulinresistenz mit oder ohne Prädiabetes mit Nierenerkrankungen und erhöhter Mortalität verbunden, was auch bei langsamer glykämischer Progression zu präventiven Maßnahmen motivieren sollte.

Welche Menschen profitieren insbesondere von den neuen Erkenntnissen?

Dr. Katsiaryna Prystupa: Für Menschen mit einem potenziell erhöhten Risiko für Typ-2-Diabetes spielt es eine große Rolle, welchen Subtyp sie haben: Drei der neu identifizierten Cluster haben ein niedriges Risiko, die anderen drei haben ein erhöhtes Risiko für Diabetes (s. Abb. 1.). Vertreter der Subtypen 1 und insbesondere 2 gelten als gesund und haben ein geringes Komplikationsrisiko; Cluster 2 umfasst hauptsächlich dünne Menschen. Cluster 4 besteht aus übergewichtigen Menschen, deren Stoffwechsel jedoch relativ gesund bleibt. Die anderen 3 Subtypen sind mit einem erhöhten Risiko für Diabetes oder schweren Folgeerkrankungen verbunden: Personen, die in Cluster 3 eingeordnet werden, produzieren zu wenig Insulin und haben daher ein hohes Risiko, an Diabetes zu erkranken. Andererseits haben Menschen des Subtyps 5 eine schwere Fettleber und damit auch ein sehr hohes Diabetesrisiko, da ihr Körper gegen die blutzuckersenkende Wirkung von Insulin resistent ist. Menschen mit Subtyp-6-Prädiabetes haben ein höheres Risiko für Nierenschäden – noch bevor Diabetes manifest wird. Auch die Sterblichkeit ist in dieser Gruppe höher.

Sie arbeiten gerade an einer App zur Identifizierung des Prädiabetes-Subphänotyps. Können Sie bitte kurz die Funktionsweise der App beschreiben und sagen, wo (z. B. Arztpraxen/Patienten*innen) diese zukünftig zur Anwendung kommen soll?

Dr. Katsiaryna Prystupa: Die Clusterbildung basiert auf der Originalveröffentlichung unter Verwendung von Variablen, die aus der Whitehall-II-Kohorte gesammelt wurden. Diese Variablen sind: orale Glukosetoleranztest (Blutzucker- und Insulinspiegel bei 0 und 120 Minuten), Nüchterntriglyceride, Taillenumfang, Hüftumfang, Body-Mass-Index (BMI) und HDL-Cholesterin. Die App kann auch Variablen aus einer komplexeren TUEF / TULIP-Studie verwenden, um Cluster zu klassifizieren. Diese Variablen (Glykämie während Glukoseexposition, Insulinsensitivität, Insulinsekretion, HDL-Cholesterin, Leberfettgehalt, Körperfettvolumen, viszerales Fettvolumen und eine polygene Schätzung des Risikos für Typ-2-Diabetes) sind aber teilweise teuer und aufwändig und nur in spezialisierten Zentren zu erheben.

Bisher wurde der Clustering-Algorithmus nur für wissenschaftliche Zwecke verwendet. Derzeit führen wir eine prospektive Validierung des Algorithmus bei neu rekrutierten Studienpatienten*innen durch. Bei einer Weiterentwicklung könnte das Prädiabetes-Klassifikationsprojekt zu einem nützlichen Instrument nicht nur für Wissenschaftler*innen, sondern auch für Ärzte*innen und Patienten*innen werden.

Ließe sich der zugrundeliegende Algorithmus denn noch breiter nutzen, um die Identifizierung von Hochrisikopatienten*innen zu automatisieren (z. B. Einbindung in die Patientenverwaltungssoftware mit Alert-Funktion, Nutzung der ePA-Daten)? Gibt es vielleicht sogar schon Planungen in diese Richtung?

Dr. Katsiaryna Prystupa: Diese Idee ist deswegen gut, weil man so auch ohne den „Initialverdacht“ Patienten*innen mit hohem Risiko automatisiert detektieren und ansprechen könnte. Eine Einbindung ins Disease Management Programm (DMP) Diabetes und die ePA in Zusammenarbeit mit der Deutschen Diabetes Gesellschaft (DDG) wird bereits geplant. Im Moment müssen allerdings zur Anwendung unserer Methode einige Werte erhoben werden, die noch nicht im Routineprogramm sind (Hüft- und Taillenumfang, Insulin und Glukose von einem oralen Glukosetoleranztest). Unsere Pläne zur Weiterentwicklung der Methode beinhalten auch die Identifikation von einfacheren Biomarkern, mit denen man die Zuordnung der Cluster mit einfacheren Messungen durchführen kann.


Quellen:
1. Wagner R et al. Nat Med 2021; 27: 49-57

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